Darum geht es
Pathogenese prägt das Denken
Zu Themen wie Gesundheit, Alter, Pflege oder Betreuung wird oft eine ganzheitliche Herangehensweise gefordert. Trotz dieser Forderung ist es noch immer so: Wir denken in Defiziten und Krankheitsbegriffen. Woher kommt diese Defizitorientierung? Vom grossen medizinischen Fortschritt der letzten 150 Jahre, der sehr viel zum Wohle der Menschen beiträgt. Die ganze Gesellschaft hat an dieser Entwicklung teilgenommen und somit auch die medizinische Sprache und Denkweise verinnerlicht. Und das ist gut so. Denn es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, wie sich Krankheiten entwickeln und wie sie behandelt werden können.
Pathogenese und Ontogenese
Die Medizin ist per Definition die Lehre der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. Der griechische Begriff dafür ist «Pathogenese». Der pathogenetische Zugang deckt aber nur einen Teil des menschlichen Gesundheitsprozesses ab. Ivan Illic meinte dazu in den 1970iger Jahren: Das medizinische System hat etwa 10 % Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung – aber 100 % Bestimmungsmacht.
Der ergänzende Gegenpol zur Pathogenese ist die Ontogenese. Das ist der griechische Name für die «Lehre der Individualentwicklung». Wenn die Pathogenese und die Ontogenese als eigenständige Wissenschaften nebeneinanderstehen, kann Gesundheit neu gedacht werden.
Gesundheit, Pflege, Alter und Entwicklung neu denken
Es ist also an der Zeit, dass unsere Gesellschaft und die nicht therapeutischen Berufe des Sozial-und Gesundheitswesens sich nebst der Pathogenese auch dem Studium der Ontogenese zuwendet. Dieser Ansatz ist nicht neu. In den letzten 30 Jahren haben sich in der Praxis verschiedene Herangehensweisen etabliert, welche die Ontogenese des Menschen in den Mittelpunkt stellen. Eine davon ist Kinaesthetics. Das Studium der Individualentwicklung anhand von Kinaesthetics zeigt: Der grösste Einflussfaktor auf die menschliche (Gesundheits-) Entwicklung ist die Qualität seiner alltäglichen Aktivitäten (ATL). Da der zentrale Auftrag nach wie vor die individuelle Unterstützung der ATL ist, kommt der Qualität der Unterstützung beim Waschen, Fortbewegen, Ankleiden et cetera eine enorme Bedeutung zu. Wenn es der Pflege gelingt, die Interaktion so zu gestalten, dass der gepflegte Mensch die Aktivitäten selbst steuern und nachvollziehen kann, dann ist das ein Beitrag in Richtung mehr Möglichkeiten. Dann ist Pflege ein Teil der Lösung. Gelingt es nicht, wird Pflege zu einem Teil der Behinderung.
Beides ist wichtig
Für die Pflege und andere Berufe des Sozial- und Gesundheitswesens gibt es nicht die Wahl zwischen Ontogenese oder Pathogenese. Im Gegenteil. Diese Berufe müssen wie bisher viel über die Krankheitsentwicklung und -behandlung wissen und in diesem Feld die notwendigen Kompetenzen aufbauen. Die zentralen Aspekte der Pflege und Betreuung – nämlich die Unterstützung der Menschen in ihren alltäglichen Aktivitäten erhalten aber unter der Perspektive der Ontogenese einen anderen Stellenwert. Die «Produkte» der Pflege sind mehr individuelle Selbstständigkeit und Lebensqualität. Professionelle Pflege und Betreuung wird dadurch zu einem Schlüsselfaktor, um die gesellschaftlichen Herausforderungen rund um die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu meistern.